Orientierung

In unruhigen Zeiten kann man schnell mal die Orientierung verlieren. Das ist auch gar nicht böse gemeint – es passiert halt. Irgendwann spürt man, dass die Richtung einfach nicht mehr stimmt. Auch wenn wir anfänglich noch versuchen, am Ziel festzuhalten, erkennen wir irgendwann, dass wir uns verlaufen haben. Orientierungsverlust bedeutet meist ein Verlust von Referenzpunkten im Sinne des uns Bekannten. So läuft das dann auch bei unseren Zukunftsbildern. Aber spätestens, wenn unsere Zukunftsbilder an Tiefenschärfe verlieren, reicht Nachdenken allein nicht mehr aus. Denn es muss auch etwas getan werden, um die Richtung zu ändern, damit wir uns wieder orientieren können.

Perspektiven mit Weitblick

Schärfe verliert man meistens dann, wenn sich Perspektiven verändern und sich dadurch Ziele nicht mehr so leicht fokussieren lassen. Gerade Zukunftsziele und Zukunftsbilder sind stark von jenen Standpunkten abhängig, aus denen wir sie betrachten. Wenn das, was gestern noch undenkbar war, im Heute auf einmal völlig selbstverständlich wird, wird Angst schnell zum „Ratgeber“. Und dann bevorzugen wir Optionen, die wir kennen. Deshalb bedienen wir uns mit Vorliebe sogenannten vereinfachten Denkmodellen. Dabei versuchen wir möglichst schnell die Dinge wieder ins gewohnte Licht zu rücken. Hans Rosling nannte dieses Phänomen den „Instinkt der einzigen Perspektive“. Gerade Unsicherheit und Angst im Umgang mit Zukunft bedeutet oft nichts anderes als eine möglichst schnelle Wiederherstellung einer verlorengegangenen Ordnung. Weil uns eben nicht unsere Ängste einem Idealzustand näherbringen, gilt es zunächst einmal eine übergeordnete Perspektive einzunehmen. Eine die uns hilft, im unbekannten Terrain wieder etwas erkennen zu können. Durch Weitblick schaffen wir neue Sichtweisen auf etwas, was wir aus unseren alten Perspektiven völlig anders wahrgenommen haben. Wenn wir verstehen, dass unsere Zukunftsbilder meist nur durch unsere selbst geschaffenen Verhältnismäßigkeiten eingeschränkt werden, lassen sich dadurch auch wieder neue Denkhorizonte ergründen.

Ganz egal ob es nun eigene, übergreifende oder gemeinsame Perspektiven sind, letztlich bleibt es immer eine Frage der Wahrnehmung. Sind wir nämlich nicht gewillt, auch mal nach links oder rechts zu blicken, kann selbst das Neue nicht wahrgenommen werden.

Wenn wir uns nun in einer komplexen, unsicheren und schnelllebigen Welt orientieren und zurechtfinden wollen, braucht es folglich wieder neue Referenzpunkte, die unserer menschlichen Wahrnehmung wieder zu Sicherheit verhelfen. Leider haben wir Menschen große Probleme damit, uns in neuen und unbekannten Situationen auch rational zu verhalten. Zum einen liegt das daran, dass sich unsere „innere“ Orientierung stark an persönliche Werte, Einstellungen und Haltungen anlehnt und viel lieber bedürfnis- als verstandsorientiert handelt. Und zum anderen liegt es an einer Art der „äußeren“ Orientierung, über die wir versuchen, unser Wissen und persönliche Erfahrungshorizonte plausibel zu ergründen und abzubilden. Wie gut oder schlecht wir dieses Wechselspiel betreiben, spiegelt sich am Ende in unsere Meta-Erfahrung wider. Diese bestimmt nicht nur, welchen Bildern wir folgen, sondern auch welche Zukunftsentscheidungen wir letztlich treffen. Unsere Wahrnehmung spielt im Umgang mit unseren Zukunftsvorhaben eine mächtige Rolle. Leider aber wird sie durch subjektive Denk- und Sichtweisen vorschnell ausgebremst oder einfach nur verzerrt wahrgenommen.

Wahre Ziele

Wenn wir in unseren Zeitreisen über das Morgen nachdenken, werden Zukunftsziele meist vorschnell als Wahrheiten verkauft. Aber sind diese Ziele auch wirklich an dem ausgerichtet, was wir tun sollten, oder offenbaren sie uns nicht viel mehr eine Art Wahrnehmungsillusion im Sinne unserer Denkfehler? Ich meine, an welchen Zukunftszielen haben wir uns denn in der Vergangenheit ausgerichtet? In den letzten 250 Jahren war doch das Credo unseres Schaffens dadurch geprägt, unsere Umwelt auszubeuten und umzupflügen. Und weil wir den Bezug zu unserer natürlichen Welt schon längst verloren haben, fragen wir uns jetzt, wie wir mit den Folgen für Natur und Klima umgehen wollen. Solange sich das Neue nicht als Bilder in unseren Köpfen abbilden lässt, ist es einfacher so weiterzumachen wie bisher. Aber Transformation könnte auch bedeuten, nicht permanent aus Angst vor Veränderung die Fehler bei anderen zu suchen, sondern sich selbst zu verändern, sprich unsere menschlichen Eigenschaften. Dadurch könnte es uns gelingen, wirtschaftliche Ressourcen in kulturelle Ressourcen umzuwandeln, damit vielmehr das Wissen über den Zustand unserer Welt in den Mittelpunkt intelligenter Entscheidungen rückt. Eine Wissenskultur mit Weitblick, die uns hilft, unsere Wertesysteme sowohl individuell als auch kollektiv zu verändern. Denn Menschen verändern sich nicht, sie verändern nur ihre Werte und folglich die daraus resultierenden Haltungen. Genau das ist es, was es braucht, wenn wir über neue Ziele nachdenken wollen.

Konstant unkalkulierbare Zukunft

Die Zukunft ist eine der mächtigsten Kräfte der Menschheit. Diese Fähigkeit, nämlich geistig auf so etwas wie Zukunft zugreifen zu können, hat uns Menschen zu dem gemacht, was wir heute sind. Es hat dazu geführt, dass sich Kulturen und Zivilisationen überhaupt entwickeln und Wohlstand entfalten konnten. Heute spüren wir immer deutlicher, dass die Welt doch keine Endlosschleife ist und dass Zukunft mehr und mehr zur unkalkulierbaren Konstante wird. Aber könnte nicht gerade das für uns auch eine große Chance sein? Wenn wir doch alle wissen, dass die Zeit der Zukunftsphrasen ihr Ablaufdatum erreicht hat und Zukunft unberechenbar und unsicher ist, könnte uns doch dafür ein neuer Plan behilflich sein. Ein Plan, der Orientierung schafft für eine Welt, in der wir nicht noch mehr vom Gleichen, sondern endlich mehr vom Richtigen vorantreiben sollten. Ein Plan mit Weitblick.

Zukunftsblick

Weitblick schafft Orientierung

Wenn wir über das Morgen nachdenken, werden Zukunftsziele meist vorschnell als Wahrheiten verkauft. Doch: Sind das nicht Illusionen? Bräuchten wir nicht vielmehr einen Plan mit Weitblick?

Gastkommentare sind Beiträge, die nicht aus der Redaktion von Zukunft Neu Denken entspringen.

 

In einer kurzen Notiz bemerkte der französische Philosoph Michel Foucault im Jahre 1973, dass „wir auf grundlegende Weise nach dem Heute fragen“ müssen, wenn wir unsere Zukunft beherrschen wollen („O mundo é um grande hospício“, 1973).
Die meisten Menschen wissen es aus eigener, leidvoller Erfahrung: Wenn man heute nicht plant, spielt man mit der Zukunft. Manch einer von uns weiß aber auch, dass jede Planung ihre Grenzen hat. Denn nicht alles, was wir uns vornehmen, wird funktionieren. Und manch neue Lösung wird sich in der Zukunft als Problem herausstellen.
Was haben sich im Jahre 1961 die Damen und Herren des US-amerikanischen Weltraumprogramms wohl gedacht? Haben sie ihre Gegenwart grundlegend befragt oder haben sie nicht vielmehr unseren Mond fixiert, diesen für uns Menschen bis dahin unerreichbaren Ort — dem die Menschheit nun einen Besuch abstatten wollte?

Im selben Jahr kam ich zur Welt und saß 1969 vor dem Fernsehgerät, um die Landung des ersten Menschen auf dem Mond mitzuerleben. Dieses Projekt gab mir wahrlich Orientierung. Ich lernte damals, dass wir uns die schwierigsten, die kompliziertesten, ja, die verrücktesten Projekte vornehmen können. Und dass wir es schaffen, wenn wir nur wollen.

Genau ein halbes Jahrhundert nach diesem Coup erlebten meine drei Kinder den Transfer eines privaten Sportwagens in die Sonnenumlaufbahn. Dieses nicht weniger spektakuläre Ereignis orientierte mich persönlich darüber, dass wir Menschen einen entscheidenden Schritt weiter gekommen sind. Mir wurde plötzlich klar, dass wir technisch so viel mehr tun können — als wir tun sollten.
Manche Fortschritte unserer technischen Welt sind auf eine geradezu bedrohliche Weise leistungsfähig. Wenn wir uns heute Gedanken über unsere Zukunft machen, dann könnten wir zwei Richtungen im Blick haben: den nach vorne orientierten Blick in die Zukunft — aber auch den prüfenden Blick zurück.
Das uns vertraute Wort Orientierung ist eine Ableitung zu (frz.) orient und bedeutet soviel wie „die Richtung, in der ein neuer Tag aufsteigt“. Anlässlich der Weltlage im allgemeinen und der Gründung des Vereins „Zukunft Neu Denken“ im besonderen, schlage ich daher vor, dass wir heute gemeinsam unsere Kräfte zähmen, dass wir heute gemeinsam unseren unbedingten Willen depotenzieren, dass wir heute gemeinsame Grenze anerkennen — so „okzidentieren“ wir uns in zeitgemäßer Weise.

Nur ein Spiel mit Worten?

Nein, verstehen wir es als eine „Denkform“ der Zukunft — einer koexistentiellen Zukunft — einer Zukunft in Frieden, Gesundheit und Wohlstand.

 

Über den Autor…

Prof. Dr. Gerhard M. Buurman ist Designer und Kulturwissenschaftler. Von 2001 bis 2017 unterrichtete er an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich, wo er unter anderem die Studienbereiche Interaction Design und Game-Design gründete, den Aufbau des Swiss Design Institute for Finance and Banking initiierte und das Institut für Designforschung leitete. Heute arbeitet der Konstanzer mit seinem Institut für Denkformen einmal mehr an der Schnittstelle von Design und Ökonomie. Gerhard M. Buurman ist außerdem Teil des Zukunftsrates von Zukunft Neu Denken.

www.postmodular.de

Zukunftsblick

Okzidentierung in zeitgemäßer Weise

Gerhard M. Buurmann erkärt, warum wir sowohl einen nach vorne orientierten Blick in die Zukunft benötigen, als auch einen prüfenden Blick zurück.